Es gibt einen Unterschied zwischen Ideen- und Prinzipienlosigkeit, und grob gesagt findet sich der Mangel an Ideen zurzeit eher auf dem linken politischen Spektrum und der Mangel an Prinzipien eher auf dem rechten. Was nicht heißt, dass die CDU besonders viele politische Ideen hätte, die über ein adenauereskes Programm hinausgehen, das das 21. Jahrhundert und entscheidende Fragen wie Klima, Ungerechtigkeit und die Zukunft der Arbeit so gut es geht ignoriert.
Problematisch ist dabei, dass diese Politik der willentlichen Ignoranz mit teils massiven Rechtsbrüchen einhergeht, wie etwa die Entscheidung, vorangetrieben vor allem vom Innenminister Alexander Dobrindt, das Grundrecht auf Asyl de facto auszusetzen und durch die Zurückweisung von Asylsuchenden auch noch europäisches Recht zu brechen. Dobrindt reiht sich ein in eine ganze Reihe von CSU-Politikern, die zum Recht ein eher performatives Verhältnis haben – nutzt es mir, dann nehme ich es, nutzt es nicht, dann breche ich es.
Ich habe darüber neulich in der taz geschrieben.
Ein bislang unterschätztes politisches Phänomen ist die zerstörerische Wirkung konservativer Politik. Es wird zwar darüber berichtet, gerade wieder, wie etwa der damalige CDU-Gesundheitsminister Jens Spahn während Corona zwischen Egomanie und Dilettantismus oszillierte oder wie Alexander Dobrindt heute europäisches Recht zerlegt – aber die systemische Dimension dieser Politik gewordenen Mischung aus Arroganz, Rechtsvergessenheit, Wurstigkeit und reinem Machtkalkül ist bislang unterbelichtet.
Dabei hat es Konsequenzen für die gesamte politische Architektur, weil es die Parteien links der konservativen oder christdemokratischen oder rechten Parteien, wie auch immer man es nennen mag, dazu zwingt, sich als Korrektiv zu definieren, als Aufräumer, als Wieder-Richtig-Macher. Was dabei über die Jahre und Jahrzehnte verloren gegangen ist, siehe SPD, ist eine eigene Vorstellung davon, wie Politik aktiv so gestaltet werden kann, dass sie ein Zukunftsversprechen formuliert.
Besonders symptomatisch erscheint dabei der Fall Jens Spahn, der besonders harte Positionen nach außen vertritt, etwa im Fall von Migration oder auch der Anerkennung der AfD als normaler Partei, der also dezidiert eine autoritäre Version konservativer Politik vertritt – und dem gleichzeitig aktuelle Recherchen zum Thema Corona und Maskenbeschaffung im Jahr 2020 ein Maß an Amateurhaftigkeit, Überforderung und Ich-Fixiertheit bescheinigen, das wie eine Petrischale konservativer Versagenspolitik erscheint; und einen Schaden in Milliardenhöhe nach sich ziehen könnte.
Ich habe über die Krise der politischen Parteien am Beispiel der Grünen und der SPD geschrieben, aber tatsächliche ist es mindestens genauso dramatisch, wie sich konservative Politik in eine Hülle ohne Kern verwandelt hat. Deutschland ist da in gewisser Weise noch windgeschützt, weil sich etwa in Frankreich und Italien der Konservatismus einfach aufgelöst hat und nur noch Rechtsradikalismus Stimmen bekommt; in Großbritannien vollzieht sich dieser Prozess gerade mit dem Ende der Tory-Partei und der Übernahme der Positionen durch Nigel Farages Reform-Partei. Und dann gibt es noch Donald Trump.
Es ist also etwas passiert, lange schon, es ist etwas im Gange, das seinen Anfang in den neunziger Jahren hatte, wie so vieles, was wir gerade erleben. Die Krise der Konservativen hängt damit nicht mit Angela Merkel zusammen, wie es viele sehen wollen, sie hängt viel mehr mit Helmut Kohl zusammen, der 1989 eigentlich am Ende war. Sein Konkurrent Oskar Lafontaine von der SPD hatte ein wirklich zukunftsweisendes Programm für eine ökologisch-soziale Marktwirtschaft ausgearbeitet, innerhalb der CDU wollten Politiker wie Heiner Geißler oder Lother Späth den lahm gewordenen Kanzler stürzen – dann kam der Mauerfall, und eine christlich-demokratische Politik, die in vielem an ihr Ende gekommen war, lebte noch acht weitere Jahre fort, verhinderte notwendige Reformen, verzögerte Innovation, verbaute Zukunft.
Was ist das konservative Projekt?
Das ist nicht irrelevant für heute, weil es keinen wirklichen Reflexions- und Erneuerungsprozess seither gegeben hat, der über einige Facetten und generelle Machtoptionen hinausging. Offen bleibt die Frage: Was ist das konservative Projekt? Man könnte nun sagen, dass die Stärke und das Versprechen des Konservatismus sich gerade in seiner Projektlosigkeit zeigt - ich glaube aber, dass es ein Projekt braucht, weil sonst das Vakuum zu groß ist und der Druck von ganz rechts dazu führt, dass man haltlos sich dem ergibt, was man als Zeitgeist wahrnehmen will.
Die Avantgarde der Prinzipienlosigkeit war dabei der italienische Ministerpräsident Silvio Berlusconi, der egoistisch, ungeniert, kriminell agierte – und offen das Ende des konservativen Projektes einleitete, das die gesamte Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg über bestanden hatte. In vielem war es die Aufgabe und das Ziel dieses Konservatismus gewesen, speziell in Deutschland das der CDU, die Ordnung der Demokratie mit der Ordnung des Marktes zu verbinden. Konservativ war hier vielleicht schon das falsche Wort – die Herausforderung, die aus dem Krieg entstand, war die der Stabilität, und sowohl linke wie rechte Parteien nahmen die Verantwortung dafür an.
Berlusconi nun brach damit, wobei ihm die Tatsache zugute kam, dass sich der italienische Konservatismus als ziemlich korrupt erwies, wie auf der anderen Seite auch die italienische Sozialdemokratie – 1994 lösten sich im Zuge der Untersuchung „Mani pulite“ (saubere Hände) sowohl die italienischen Christdemokraten wie die Sozialistische Partei auf, das gleiche Jahr, in dem Silvio Berlusconi das erste Mal zum Ministerpräsidenten gewählt wurde, der wiederum seine eigenen Gründe hatte: „Ich bin gezwungen in die Politik zu gehen“, sagte er selbst, „denn andernfalls werden sie mich ins Gefängnis bringen“.
Berlusconis Kampagne 1994 war der erste wirkliche Medienwahlkampf, angetrieben von seinen eigenen Fernsehsendern und mit einer Partei, die „buchstäblich am Reißbrett“ entworfen worden war, wie es der Politikwissenschaftler Thomas Biebricher in seinem Buch Mitte/Rechts. Die internationale Krise des Konservatismus beschreibt – eine Partei aus der Retorte, ohne wirkliche ideologische Ausrichtung jenseits eben einer Positionierung mitte-rechts, benannt nach dem Schlachtruf italienischer Fußballfans, Forza Italia. Berlusconi präsentierte sich als das neue Gesicht in einem alten, korrupten, verbrauchten System, seine Partei gewann bei den Wahlen aus dem Stand 21 Prozent und wurde stärkste Kraft – Berlusconi hatte „das Modell einer personalisierten Flash-Partei etabliert“, wie Biebricher es nennt, „das bald auch im Ausland Nachahmer finden sollte“.
Es war eine Zäsur der italienischen Nachkriegsgeschichte, die Zerstörung der parteipolitischen Architektur, wie sie dann nach und nach auch in anderen europäischen Ländern wie Frankreich vollzogen wurde – ein stetiger Sinkflug der klassischen Konservativen, wie Biebricher bemerkt, und die Ablösung durch eine neue, gleichsam entkernte rechte Politik. Einerseits also änderte die rechte Mitte ihre ideologische Gestalt: Neoliberalismus verband sich zunehmend mit Autoritarismus. Andererseits, darauf weist der Historiker Philipp Ther in seinem Buch Das andere Ende der Geschichte. Über die Große Transformation hin, „begannen die Arbeiter unter Berlusconi, überwiegend rechts zu wählen“.
Was andere erst theoretisiert hatten, war hier Praxis geworden: Der Austausch der Wählerschichten, wie er sich zuletzt in den USA gezeigt hat, wo die eher Wohlhabenden und gut Ausgebildeten mehrheitlich für die Demokratische Partei stimmten, während die Arbeiter oder die weniger gut Verdienenden oder die, die in der Gesellschaft nach oben wollen, mehrheitlich für die Republikanische Partei stimmten, dieser Austausch begann in Italien schon in den mittleren neunziger Jahren sichtbar zu werden.
Wie bei Berlusconi ist auch der Triumph von Trump angetrieben durch eine veränderte Medienrealität – was bei Berlusconi das neu entstandene Privatfernsehen war, das ihm seine Manipulation der Meinung ermöglichte, das sind für Trump die sozialen Medien, die auch andere rechte Parteien wie die AfD deutlich geschickter nutzen als andere Parteien. Es ist eine Form des digitalen Newsletter-Bombardements, das Verkaufsangebote mit Politikversprechen vermischt. Es sind Podcaster wie Joe Rogan, die die Botschaften der Trump-Welt sehr ungefiltert und sehr ausgebreitet zu einem hungrigen Publikum bringt, das sich sonst nicht gehört oder gemeint fühlt, abgehängt, vergessen. Und die progressiven Kräfte sind sehr schwach und zaghaft diesem effektiven Gebrauch der neuen Technologien etwas entgegenzusetzen – siehe die wirkungsvolle TikTok-Präsenz der AfD.
War es historisch die Aufgabe konservativer Akteure gewesen, wie es Biebricher beschreibt, die „massiven Verlustängste“ der vor allem ökonomischen Eliten zu mindern und dafür zu sorgen, „dass sie ihre Machtressourcen nicht gegen die noch fragile Demokratie mobilisierten“, so zeigte sich nun mehr und mehr, was passiert, wenn diese Kräfte immer schwächer werden, wie seit den neunziger Jahren zu beobachten: „Fehlen diese Akteure“, schreibt Biebricher, dann „fragmentiert sich das Feld der rechten Mitte oder es kommt – womöglich als Folge – zu einer Radikalisierungsdynamik“. Die Übernahme der Republikanischen Partei, weitgehend ohne Widerstand, durch Donald Trump wäre demnach keine Überraschung, sondern die Konsequenz aus tieferliegenden Verschiebungen, die bleibende Wirkungen haben werden.
Weniger Freiheit und die “big beautiful bill”
In Trump manifestiert sich, was auch in anderen Ländern längst zu sehen ist: Es ist der Widerstand gegen Globalisierung und Freihandel, der nun von rechts geführt wird und die kommende Zeit kennzeichnen wird. Die rechten Parteien, etwa Giorgia Melonis Fratelli d’Italia, verbinden dabei das Verständnis, dass Märkte nicht allein für sich Gesellschaft gestalten können und es notwendig ist, dass Regierungen Ziele und Visionen formulieren und Schranken setzen, mit einem Programm, das anti-kosmopolitisch, anti-liberal, anti-Diversität, anti-Einwanderung, anti-Bürgerrechte ist. Es ist auch ein „moral turn“, wie Gary Gerstle meint, der Abschied von einer bestimmten Philosophie von Freiheit – oder anders gesagt: die Hinwendung zu Freiheit ohne Liberalismus. Oder einfach weniger Freiheit, Freiheit für wenige.
Das ist, kurz gesagt, das Projekt der „big beautiful bill“, die gerade von Donald Trump unterzeichnet wurde. Eine Revolution von oben mit der Guillotine als Tax Cuts für die Reichen und Superreichen. Hier ist nichts Konservatives oder Christdemokratisches, selbstverständlich, hier ist die reine Macht und die mafiöse Interessenspolitik der Umverteilung von unten nach oben. Kalkulierte Grausamkeit mischt sich mit verantwortungsloser Haushaltspolitik, die jeder vernunftgetriebenen Regierung, die nach Trump kommen sollte, so gut wie jedes konstruktive Handeln auf dem Krater von Schulden unmöglich macht.
Ein wesentlicher Teil dieses Projektes ist also die Zerstörung der Zukunft – wobei Trump geschickt genug ist, auch das noch als Zukunftsvision zu verkaufen. Wir rauschen da, wie Gary Gerstle es nennen würde, in eine neue Ära hinein, deren Kräfte auch weiter auf das einwirken werden, was in Deutschland an so genanntem Konservatismus übriggeblieben ist. Am Horizont wartet Schwarz-Blau, 2029 oder früher schon.
In diesem Sinn: Start worrying, details to follow.
(Dieser Text bezieht sich in vielem auf mein Buch “Kipppunkte”, das die gebrochenen Versprechen der neunziger Jahre sehr viel ausführlicher beschreibt.)