Es wäre die Zeit der Sozialdemokratie. Es wäre an der Partei der Arbeit und des sozialen Aufstiegs, die Antworten zu finden auf die Fragen vom Ende der Arbeit und dem Aufstieg, der für so viele gestoppt wurde. Die Ruptur in unserer Zeit, verursacht durch Technologie, Ungerechtigkeit und fehlende gesellschaftliche Visionen, ist eine Chance für eine Sozialdemokratie, die aus ihrer DNA und Geschichte neue Antworten auf im Grunde alte Fragen findet. Aber leider ist sie dazu aktuell nicht in der Lage.
Der Parteitag der SPD am vergangenen Wochenende war ein Spektakel der Ratlosigkeit. Die Tragik der SPD ist, dass sie in der selbstgewählten Ideenlosigkeit steckt, die auf die Entscheidungen der neunziger Jahre zurückgeht. Damals war es eine Machtoption, sich dem neoliberalen Paradigma zu öffnen oder zu ergeben, heute blockiert dieses Denken jede Machtoption. Der merkwürdige Wahlsieg von Olaf Scholz hat das nie überdeckt, seine programmatische Apathie war mit ein Grund für mich, das Buch “Kipppunkte” zu schreiben, um in der Vergangenheit die Gründe für diese Art von Politik zu finden, die einen größeren Gestaltungswillen weitgehend aufgegeben hat.
Wie auch Labour und die US-Demokraten steckt die SPD in einer Ära fest, die andere schon längst hinter sich gelassen haben. Sie ringen immer noch etwas ungeschickt mit einem Neoliberalismus, der so nicht mehr existiert. Der Kapitalismus hat sich weiterentwickelt, die Sozialdemokratie nicht. Das bringt demokratische Spannungen. Das Kapitel über die Abschaffung der Politik in den neunziger Jahren, das hier in Auszügen zu lesen ist, macht diesen Prozess ein wenig deutlicher.
„Seit ihrer Herausbildung im späten 18. Jahrhundert“, schreibt Anthony Giddens, einer derjenigen, die die grundlegende Neujustierung des Politischen in den neunziger Jahren vorantrieben, „ist die Unterscheidung zwischen Links und Rechts stets mehrdeutig und nur schwer auf die politischen Realitäten beziehbar gewesen“. Und gerade deshalb unternahm Giddens, zusammen mit anderen wie Ulrich Beck, die „Erneuerung der sozialen Demokratie“, so der Untertitel seines programmatischen Buches Der dritte Weg, das auf Deutsch 1999 erschien und die künftigen Machtoptionen einer Sozialdemokratie beschrieb, die dieses Jahrzehnt politisch entscheidend geprägt hatte.
Denn das Ende des Kalten Krieges hatte vielleicht linke Melancholie produziert und zu Feuilleton-Debatten über die Frage „What’s left?“ geführt, in der wirklichen Welt aber war der Bedarf an sozialdemokratischer Politik – also Gleichheit plus Freiheit plus, eigentlich, eine Demokratisierung des Marktes – deutlich gewachsen. Bill Clinton war der erste gewesen, der mit einer klaren Ansage seine politische Macht errungen hatte: „It’s the economy, stupid!“, das war sein Wahlslogan, mit dem er 1992 zum US-Präsidenten gewählt wurde – die Rechten, die Konservativen, wie auch immer man sie nennen wollte, sie hatten wohl vergessen, dass Politik eine materielle Basis hat und dass Ungleichheit und Unzufriedenheit entscheidende Wahlfaktoren sind.
Die Vorstellung vom Staat als Maschine
1997 wurde dann Tony Blair britischer Premierminister und war so jung und cool, wie es London war in jenen Jahren von „Cool Britannia“, als Kunst und Pop und eben auch Politik hier zu einem Versprechen des Neuen verschmolzen, ein Weltgeist bei der Arbeit, eine Generation, die mit guter Laune und Enthusiasmus ans Werk ging. „New“ war das Schlüsselwort: Blair, der von sich sagte, er sei eigentlich gar kein Politiker, verabschiedete Old Labour, die Partei der Arbeiter, durch New Labour, die Partei der Angestellten. Die Tories hatten unter Thatcher die Macht der Gewerkschaften verändert und den Staat ausgehöhlt, nun war es Zeit, eine neue Konzeption des Staates aus dem Geist der Marktwirtschaft zu entworfen, aber mit sozialdemokratischem Gestus. Das New Public Management bestimmt seither die Vorstellung vom Staat als Maschine, die funktionieren soll. Das Ethos von New Labour war Pragmatismus, das Paradigma war der Markt – erstmal unbeantwortet war die Frage, was von der sozialdemokratischen Aufstiegsaspiration blieb und dem Gleichheitsversprechen.
Der Wohlfahrtsstaat jedenfalls, der das Modell des Nachkriegskapitalismus gewesen war, war nicht mehr das Modell von New Labour, genauso wenig wie von Bill Clinton oder Gerhard Schröder. „Der Wohlfahrtsstaat, der allgemein als das Herzstück sozialdemokratischer Politik angesehen wird“, schreibt Anthony Giddens programmatisch, „schafft heute mit seiner Lösung der Probleme ständig neue Probleme.“ Im Zuge einer Individualisierung der Gesellschaft, die maßgeblich zunahm, je mehr sich der Markt als vorherrschende Prämisse etablierte, wurde auch die Verantwortung für das eigene Leben individualisiert – mit Folgen für die Sozialdemokratie, deren Versprechen die Versorgung der Menschen gewesen war, durch Vereine, Gewerkschaften, Genossenschaften. Giddens liest das, wieder mit programmatischem Optimismus, als eine Emanzipation und letztlich Befreiung und nicht als Verlust.
„Wir müssen unser Leben heute aktiver gestalten als frühere Generationen, und wir müssen bewusster Verantwortung für die Folgen unserer Handlungen und der von uns gewählten Lebensformen übernehmen“, schreibt Giddens. Er sieht eine „totale Veränderung in den Einstellungen und Zielen der Menschen“, die Individualisierung geht für ihn „mit der Forderung nach mehr Demokratisierung einher“. Zugleich hadert er, am Ende dieses sozialdemokratischen Jahrzehnts mit Mitte-Links-Koalitionen in den USA, in Großbritannien, Deutschland, Frankreich, Italien, Österreich, Griechenland und den skandinavischen Ländern außer Norwegen, dass es noch kein sozialdemokratisches Projekt gebe, „keinen neuen und einheitlichen politischen Standpunkt“. Seine Diagnose: „Politische Ideen scheinen heutzutage nicht mehr in der Lage zu sein, zu begeistern, und politische Führer nicht mehr, zu führen.“
Die Technokratie des Dritten Weges
Von heute aus betrachtet, mehr als Vierteljahrhundert später, klingen viele der Sätze, mit denen Giddens die Lage beschreibt, sehr vertraut: „Entschlossen optimistisch scheinen nur diejenigen zu sein, die an eine technologische Lösung unserer Probleme glauben. Aber die technologische Entwicklung zeitigt zweischneidige Folgen, und ohnehin kann die Technik nicht die Basis eines effektiven politischen Programms bilden. Das politische Denken wird seine Imaginationskraft nur wiedererlangen, wenn es weder bloß reagiert noch sich auf das Alltägliche und allzu Naheliegende beschränkt. Ohne Ideale ist keine Politik zu machen, aber Ideale sind leer, wenn sie sich nicht auf realisierbare Möglichkeiten beziehen.“
Das Problem, wiederum aus der Rücksicht: Es hat sich auch unter den Sozialdemokraten des „dritten Weges“ kein solches Projekt entwickelt, nicht in den neunziger Jahren und nicht danach. Geblieben ist die von Giddens diagnostizierte Entleerung des Politischen durch einen Pragmatismus, der allzu oft allzu nah am technokratischen Gestus war. Bezogen auf die achtziger Jahre, als deren Ablösung die Regierungen von Clinton, Blair und Schröder gefeiert wurden, blieb es in vielem bei einer „Modernisierung“ genannten Weiterentwicklung der Prinzipien des freien Marktes, der auf immer weitere Bereiche der Gesellschaft übertragen wurde.
Gerhard Schröders Arbeitsmarktreformen sind hier ein gutes Beispiel: Die Agenda 2010 verlagerte die Verantwortung für Arbeit auf den Einzelnen – „keine Rechte ohne Verpflichtungen“, wie Giddens das nennt. Aufgabe des Staates sei es, „darauf zu achten, dass die Sozialsysteme die Motivation“ für eine Arbeitssuche „nicht dämpfen“. Das Aufstiegsversprechen wurde in einen Verweigerungsverdacht verwandelt, eine sozialpolitische Schubumkehr. In Deutschland nannte man das „Ich-AG“.
Der Philosoph der Sozialdemokratie, Jürgen Habermas, war bei all dem eher skeptisch – er sah 1998 Zeichen kommender demokratischer Regression, gerade durch den von Giddens propagierten „dritten Weg“: Habermas befürchtete „die Verdrängung der Politik durch den Markt“ und warnte vor der nachlassenden „Integrationskraft der bestehenden nationalen Lebensformen, die bisher die staatsbürgerliche Solidarität getragen haben“. Das führe, so Habermas, „auf Seiten der Wähler zu Apathie, oder Protest, auf Seiten der Politiker zur Abrüstung ihrer Programme. Der Verzicht auf politische Gestaltung der sozialen Verhältnisse und die Bereitschaft, normative Gesichtspunkte zugunsten der Anpassung an vermeintlich unausweichliche systemische Imperative des Weltmarktes einzuziehen, beherrschen die öffentlichen Arenen der westlichen Welt. Clinton oder Blair empfehlen sich als tüchtige Manager, die ein angeschlagenes Unternehmen schon irgendwie reorganisieren werden, und verlassen sich auf Leerformeln wie ‚It‘s Time for a Change‘.“
Bill Clinton verkörperte dabei, wie auch Tony Blair und etwas weniger Gerhard Schröder, eine neue Generation, die mit neuen Mitteln an die politische Macht gekommen war, frischere politische Kampagnen, ein intuitives Verständnis der Medienrealität, gute Laune und breites Lachen. Verbunden war das mit echter Euphorie der Wählerschaft, die einen Wechsel in Stil und vielleicht auch Substanz suchte, und der Hoffnung, im Fall von Clinton, auf eine „Neuerfindung von Regieren“, wie es sein Vizepräsident Al Gore ausdrückte.
Das Scheitern von Bill Clinton
Als Clinton 1993 US-Präsident wurde, brachte er programmatisch denkende Menschen mit wie Robert Reich, sein Arbeitsminister, die Beraterin in Wirtschaftsfragen Laura Tyson und Ira Magaziner, der sich um die ambitionierte Gesundheitsreform kümmern sollte. Es war alles andere als eine neoliberale Truppe, die mit ihm ins Weiße Haus einzog, so beschreiben es Nelson Lichtenstein und Judith Stein in ihrem Buch A Fabulous Failure. The Clinton Presidency and the Transformation of American Capitalism. Clinton glaubte, wie viele andere auch, an die Versprechen einer “new economy“, die andere Anforderungen hatte, besser ausgebildete Arbeitskräfte etwa, die mehr Möglichkeiten hätten und einen höheren Lebensstandard. Nach der katastrophalen Niederlage bei den Kongresswahlen im Jahr 1994 wurde er allerdings, wie der Historiker Gary Gerstle es nennt, zum „neoliberalen Präsidenten par excellence“.
Clinton spiegelte in seiner Sicht auf neue Wählermilieus wie auf eine neue Wirtschaft die einflussreichen Thesen des Politologen Ronald Inglehart, der einen Wertewandel im postmodernen oder sogar, ein Widerspruch, postmaterialistischen Kapitalismus konstatierte. Klassengrenzen oder das Links-Rechts-Schema verloren demnach an Einfluss, „Selbstverwirklichung und der Wunsch nach einer sinnvollen Arbeit treten an die Stelle der Einkommensmaximierung“, so fasst Anthony Giddens die Diagnose Ingleharts zusammen. In einer Gesellschaft, die immer stärker individualistisch organisiert war, in der die Menschen immer besser ausgebildet waren, in der Fabrikarbeit durch Deindustrialisierung und Automatisierung weniger wurden und die Wissens-Ökonomie andere Jobs hervorbrachte mit anderen Karrierewegen und anderen Form von Solidarität oder Nicht-Solidarität, gab es nachvollziehbare Gründe für eine notwendige Neuorientierung der Sozialdemokratie. Die Frage ist (und bleibt): Wie?
Anthony Giddens analysierte die Optionen und stützte sich dabei auf eine Einteilung des britischen Wählermilieus in vier Gruppen, konservativ, sozialistisch oder sozialdemokratisch, autoritär und radikal-liberal. Für Tony Blair ließ sich aus dieser Aufspaltung eine reale Machtoption entwickeln – er konnte bei seinem Wahlsieg 1997 außer den sich konservativ einstufenden Menschen alle anderen Gruppen mehrheitlich für sich gewinnen. Giddens weist aber andererseits, ohne es selbst so zu nennen, auch den Weg zu einer neuen Machtoption für Deutschland, eine „neue Mitte“, wie es 1998 im Wahlkampf von Gerhard Schröder hieß – eine andere Basis für die deutsche Sozialdemokratie, die nun auch eher liberal oder libertär eingestellte Menschen adressierte, Macher und Modernisierer. Es war die Basis für ihren Erfolg bei der Bundestagswahl.
Die seltsame Neue Mitte
Was aber sollte das genau sein, die „neue Mitte“? War das der Weg zur klassenlosen Gesellschaft? War es der Kult des höheren Angestellten? Es gab tatsächliche Verschiebungen in der Wirtschaft, die sich notwendigerweise in Programmatik und Terminologie der Parteien spiegeln mussten. Die postindustrielle Gesellschaft war eine Realität, die Kreativ-Industrie war ein Versprechen, und die SPD wandte sich nun mit Elan einer neuen Klientel zu: „Wir setzen auf die Leistungsträgerinnen und Leistungsträger unserer Gesellschaft: Auf die hoch qualifizierten und motivierten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, auf die Frauen und Männer, die in Familien und Schulen Verantwortung tragen für Erziehung und Bildung unserer Kinder, auf die vorausschauenden und engagierten Manager und Unternehmer, auf die innovativen und flexiblen Mittelständler, Handwerker und Freiberufler, auf die mutigen Existenzgründer, auf die hervorragend ausgebildeten Informatikerinnen, Ärztinnen und Ingenieurinnen, auf die erfindungsreichen Techniker und Wissenschaftler und auf die verantwortungsbewussten deutschen Gewerkschaften“, so hieß es im Wahlprogramm „Arbeit, Innovation und Gerechtigkeit“, mit dem die SPD 1998 antrat – als Einladung an das moderne Deutschland, wie es die SPD verstand.
Der grundlegende Wechsel der sozialdemokratischen Programmatik war damit 1998 formuliert, es war das Ende der Arbeiterpartei SPD und der Anfang der Angestelltenpartei SPD – wobei die meisten aus diesem umworbenen Milieu etwa nicht gewerkschaftlich organisiert waren, keine klassische Affinität zur Sozialdemokratie hatten und nicht Teil der, wie es etwas sehr spitz und fast schnippisch hieß, „verantwortungsbewussten“ Gewerkschaften waren, die, so klang das, ihre Verantwortung bitte so verstehen sollten, dass sie keine überdimensionierten Forderungen an Gehalt oder Arbeitszeit stellten. Es ging schließlich darum, „dass es mit Deutschland wieder aufwärts geht“, wie die SPD schrieb. „Zusammen mit diesen Leistungsträgern unserer Gesellschaft sind wir die Neue Mitte Deutschlands. Zu dieser Neuen Mitte gehören auch die Menschen, die ihren Platz in Beruf und Gesellschaft wollen, um ihren Leistungswillen zur Geltung bringen zu können. Dazu gehören auch die Jugendlichen, die Ausbildung und Arbeit suchen, und all die Menschen, die sich nicht abfinden mit Arbeitslosigkeit und Ungerechtigkeit.“
Die Partei der höheren Angestellten
Die SPD wollte die Hungrigen, aber in einem anderen Sinn als 100 Jahre zuvor, als es um tatsächlichen Hunger ging – nun war es der stark individualisierte Drang nach vorne, nach Leistung, die sich lohnen sollte. Unklar war, wo die Schwachen blieben, für die es hier und da einen eher symbolischen Satz gab. Unklar war, ob sich so dauerhafte Mehrheiten schaffen ließen. Man muss sich fast wundern, wie lange es dauerte, bis deutlich wurde, dass sich hier niemand mehr wirklich für die Arbeiterinnen und Arbeiter interessierte. Wie lange es dauerte, bis die SPD erkannte, dass die Klientel, die sie avisierten, sie bei aktuell um die 15 Prozent herumdümpeln lassen würde, auch weil sie sich diese Klientel mit Parteien wie den Grünen und der FDP und letztlich auch der CDU teilen musste.
Denn die Mitte war eng, nicht breit, und je mehr sich die Parteien um die Leistungsträgerinnen und Leistungsträger kümmerten, desto enger wurde die Mitte, wenn man diese Geometrie verwenden will, weil es an den Rändern immer voller wurde. Wo war nun der Ort für politische und gesellschaftliche Konflikte? Wo war eine Interessensvertretung für die, die sich vielleicht auch nicht abfinden wollten mit „Arbeitslosigkeit und Ungerechtigkeit“, aber den falschen Job hatten oder das falsche Alter?
Anthony Giddens hatte zwar noch die Feststellung gewagt, dass soziale Gerechtigkeit nach wie vor „Hauptanliegen der Politik des dritten Weges“ sein sollte – er hatte aber vor allem auf das Spannungsverhältnis von Freiheit und Gleichheit hingewiesen, bei dem sich die Sozialdemokraten nun nicht auf die Seite der Gleichheit, sondern auf die der Freiheit schlugen: „Nach dem Verzicht auf kollektive Lösungen“, so Giddens, „will die Politik des dritten Weges ein neues Verhältnis von Individuum und Gesellschaft herbeiführen“.
Die SPD sah sich, so viel wird deutlich, als Hebamme des Weltgeistes, und sie lag damit letztlich auch gar nicht so falsch, jedenfalls was die Wahlerfolge betraf – die Frage war, was der politische Preis war und bleibt für den Gewinn der politischen Macht. Eine Art Manifest, ein Höhe- und in manchem auch Endpunkt dieses neuen Denkens und auch Selbstvertrauens war das so genannte Schröder-Blair-Papier, das am 8. Juni 1999, wenige Tage vor der Europawahl, in London vorgestellt wurde und auf Deutsch den Titel Der Weg nach vorne für Europas Sozialdemokraten trug. In wenigen Schlüsselsätzen wurde hier klargestellt, wie die Kraft- und Machtverhältnisse im 21. Jahrhundert aus Sicht der Sozialdemokratie verteilt waren: Der Kapitalismus führt, die Demokratie folgt.
Alle Macht den Märkten
„Die Steuerungsfunktion von Märkten“, hieß es gleich zu Beginn, „muss durch die Politik ergänzt und verbessert, nicht aber behindert werden.“ Man wolle einen Staat, der „die Wirtschaft nach Kräften fördert, sich aber nie als Ersatz für die Wirtschaft betrachtet“. Ein Jahrzehnt nach dem Zusammenbruch des staatlich organisierten Kommunismus las sich dieses Papier wie ein Abschiedsbrief.
„In der Vergangenheit wurde die Förderung der sozialen Gerechtigkeit manchmal mit der Forderung nach Gleichheit im Ergebnis verwechselt“, hieß es, obwohl das eigentlich nie die Politik der europäischen Sozialdemokraten gewesen war. „Letztlich wurde damit die Bedeutung von eigener Anstrengung und Verantwortung ignoriert und nicht belohnt und die soziale Demokratie mit Konformität und Mittelmäßigkeit verbunden statt mit Kreativität, Diversität und herausragender Leistung.“
Mal zeigt dieses Papier damit einen Ton machtbewusster Resignation vor der Realität der neuen Zeit, mal werden Aspekte benannt, die durchaus nach vorne weisen: „Der Weg zur sozialen Gerechtigkeit war mit immer höheren öffentlichen Ausgaben gepflastert, ohne Rücksicht auf Ergebnisse oder die Wirkung der hohen Steuerlast auf Wettbewerbsfähigkeit, Beschäftigung oder private Ausgaben“, so wird im Papier ein Thema benannt, das heute in Gestalt von Wirkungszielen und missions-orientiertem Handeln wieder sozialdemokratische Praxis werden könnte. „Qualitätvolle soziale Dienstleistungen sind ein zentrales Anliegen der Sozialdemokraten“, hieß es damals, „aber soziale Gerechtigkeit lässt sich nicht an der Höhe der öffentlichen Ausgaben messen. Der wirkliche Test für die Gesellschaft ist, wie effizient diese Ausgaben genutzt werden und inwieweit sie die Menschen in die Lage versetzen, sich selbst zu helfen.“
Es waren aber mehr als technokratische Annahmen über die beste Art, den Staat zu organisieren, die das Papier ausmachten – es war eine neue Art von Gesellschaftsverständnis oder sogar Gesellschaftsvertrag, die hier skizziert wurde, mit grundlegenden Aussagen über, letztlich, die Natur des Menschen: „Wir haben Werte, die den Bürgern wichtig sind - wie persönliche Leistung und Erfolg, Unternehmergeist, Eigenverantwortung und Gemeinsinn -, zu häufig zurückgestellt hinter universelles Sicherungsstreben“, schreiben die beiden Hauptautoren Bodo Hombach, Kanzleramtsminister unter Gerhard Schröder, und der Blair-Vertraute Peter Mandelson.
Das Dokument ist reich an eklatanten Widersprüchen an entscheidenden Stellen, die in gewisser Weise schwer zu erklären sind, außer vielleicht mit einer für die neunziger Jahre typischen Mischung aus Machtanspruch, Gedankenverlorenheit und historischem Automatismus: „Allzu oft wurden Rechte höher bewertet als Pflichten. Aber die Verantwortung des Einzelnen in Familie, Nachbarschaft und Gesellschaft kann nicht an den Staat delegiert werden. Geht der Gedanke der gegenseitigen Verantwortung verloren, so führt dies zum Verfall des Gemeinsinns, zu mangelnder Verantwortung gegenüber Nachbarn, zu steigender Kriminalität und Vandalismus und einer Überlastung des Rechtssystems.“
Der sozialkonservative bis sicherheitsversessen-misstrauische Charakter dieser neuen Sozialdemokratie wurde in dem Papier durch die wiederholte Betonung von „Drogen und Kriminalität“ deutlich – vor allem die Regierungen von Bill Clinton und Tony Blair zeichneten sich durch eine repressive Politik in diesem Bereich aus. Sehr pointiert wird auch auf die Frage nach dem sozialen Zusammenhalt eingegangen, die in den neunziger Jahren auch der US-amerikanische Soziologe Robert Putnam in seinem viel diskutierten Buch Bowling Alone. The Collapse and Revival of American Community stellte, das im Jahr 2000 erschien. In dem wissenschaftlichen Artikel, auf dem das Buch basierte, beschrieb Putnam schon 1995 den Trend zur Auflösung von Gemeinschaft und gesellschaftlichen Organisationsformen wie Vereinen, Clubs, Kirchen, Gewerkschaften; auch die Zahl der Wählerinnen und Wähler nahm in den USA kontinuierlich ab.
Putnam verweist explizit auf die Notwendigkeit einer starken Zivilgesellschaft für die Demokratie, speziell auch vor dem Hintergrund und der Erfahrung des gerade zu Ende gegangenen Kalten Krieges. Sein Anliegen ist eine im Kern tief sozialdemokratische Reflexion über Solidarität und sozialen Ausgleich – seine Analyse aber bleibt überraschend losgelöst von den materiellen Verschiebungen innerhalb des Systems des US-amerikanischen Kapitalismus in den Jahren seit 1950, der Zeit, als sozialer Zusammenhang nach Putnams Meinung mehr und mehr verloren ging.
Der Verlust von sozialem Kapital
Putnam nennt verschiedene mögliche Erklärungen für den Trend zu weniger organisiertem sozialen Verhalten, etwa die Tatsache, dass 1995 so viel mehr Frauen arbeiteten als 1950 – eine „soziale Revolution“, die ihn zu der „hoch plausiblen“ Schlussfolgerung führt, dass in der Gesellschaft als Ganzes „weniger Zeit und Energie vorhanden sind, um soziales Kapital zu bilden“, wie es Putnam beschreibt. Weitere bedenkenswerte Gründe sind für ihn die größere Mobilität innerhalb der Gesellschaft, vor allem die geographische, was zu einem „Umtopf-Effekt“ führe; außerdem demographische Veränderungen wie weniger Ehen, mehr Scheidungen, weniger Kinder; schließlich niedrigere Löhne und die „technologische Transformation der Freizeit“ durch Fernsehen und Videorekorder.
Was bei Putnam fehlte, war die alles treibende Kraft hinter diesen Verschiebungen: eine Marktwirtschaft, die alle Teile der Gesellschaft beeinflusste – und von den Sozialdemokraten zu diesem Zeitpunkt auf sehr kontra-intuitive Weise eher als gemeinschaftstreibende Kraft gesehen wurde, wohingegen zu starke Interessenspolitik von Seiten der Arbeitnehmer, so die Logik, zu mehr „Kriminalität und Vandalismus“ führe.
Für die US-amerikanische Politikwissenschaftlerin Stephanie Mudge ist das, was sich in der Sozialdemokratie in den neunziger Jahren ereignete, eine „Neuerfindung der Linken“, und sie meint das durchaus ambivalent. „Grob gesagt“, schreibt Mudge in ihrem Buch Leftism Reinvented. Western Parties from Socialism to Neoliberalism, „betraten die linken Parteien des Westens das 20. Jahrhundert sozialistisch und verließen es in der marktfreundlichen, oder neoliberalen, Form des dritten Weges“.
Neoliberalismus ist für Mudge „eine bestimmte Art und Weise, über den Staat nachzudenken, was er tun sollte, mit welchen Mitteln und für wen“. Die vormals linken Parteien hatten sich entschieden: Sie wollten mit Pragmatismus, das war ein Schlüsselwort, in einer Welt agieren, in der die Märkte die Macht hatten und es darum ging, Gesellschaft zu managen. Die gestaltende Energie wurde an Technologen und Unternehmer delegiert, die im neuen Jahrhundert mit dem Schumpeter‘schen Schwung der „kreativen Zerstörung“ eine neue Ordnung einläuten sollten. Der dritte Weg, so stellte sich heraus, war nur ein Übergang.
Der Sozialdemokratie fehlen die Menschen
Wählten aber die sozialdemokratischen Parteien den neoliberalen Kurs, weil ihnen die Wählerschaft davonlief? Oder weil die alte Industrie ihre Bedeutung verlor, Stahl, Kohle, Chemie, all das, was nicht nur etwa den deutschen Wirtschaftsboom angetrieben, sondern auch die Gewerkschaften groß gemacht hatte? Was war zuerst da? Mudge zufolge ist es die neue Programmatik der Sozialdemokratie, die „die Wählerschaft demobilisierte und die Verbindung zwischen Partei und Gewerkschaften schwächte“. Die Konsequenz: Im Verlauf der neunziger Jahre nahm etwa der Stimmanteil der schwedischen Sozialdemokraten kontinuierlich ab, die Stimmen auf der extremen Linken und vor allem der extremen Rechten nahmen immer mehr zu. Für Deutschland beschreibt sie einen ähnlichen Trend: Seit 1998 nimmt die Zahl der Menschen, die für die SPD stimmen, kontinuierlich ab – was zu einer „neuen Konkurrenz jenseits des Mainstreams“ führte.
Diese Menschen fehlen der Sozialdemokratie gerade heute: die Arbeiterschicht, die untere Mittelschicht, die, denen es nicht gut geht. Die SPD verlor in diesen Jahren an innerparteilicher Diversität und Dynamik – als Oskar Lafontaine 1998 als Finanzminister im Kabinett Schröder zurücktrat und die Partei verließ, ging auch ein Hauptkritiker des neuen Kurses der neuen Mitte. Es verstärkte sich eine Entwicklung, die jemand wie der Politik-Veteran Gunter Hofmann bis auf den SPD-Kanzler Willy Brandt zurückführt: das Selbstverständnis, Politik diskursiv zu gestalten, Richtungsentscheidungen zu erklären, sich mit Worten Mehrheiten zu sichern und Projekte zu entwerfen, die der Wählerschaft vermittelt werden mussten, notfalls im Streit. „Parlamentarismus und Diskurs waren die Quintessenz einer gelungenen Demokratie“, sagt Hofmann. Schon Helmut Schmidt war für ihn ein Rückschritt, der eher technokratisch und im Vollzug regierte, nicht im Verständnis von „Legitimation durch Verfahren“, wie es Jürgen Habermas nennt – obwohl Schmidt, sagt Hofmann, durchaus „diskursiv veranlagt“ war.
Damit stand er im Gegensatz zu Helmut Kohl, der all die Schönredner seiner Partei mit Misstrauen betrachtete, Richard von Weizsäcker, Walther Leisler Kiep, Karl Lamers, eine Intellektuellenfeindlichkeit, aus der heraus Kohl auch die Karrieren seiner Gegner zerstörte. Gerhard Schröder machte Politik mit, wie er stolz sagte, „Bild, BamS und Glotze“ – und vor allem dem „Basta!“, für das er berühmt wurde. Unter Angela Merkel ging der Diskursschwund weiter, sie schwieg lieber und wartete. Olaf Scholz wiederum weigerte sich schlicht, seine Politik zu erklären, er hatte eine arrogante Art, die oft einer Verachtung der Medien und letztlich auch der Wählerinnen und Wähler gleichkam.
Die Leere des Parteiensystems
Die Demokratie war damit beharrlich diskursiv unterzuckert, und zwar nicht nur die deutsche. „In den späten neunziger Jahren“, so beschreibt es der Politikwissenschaftler Peter Mair in seinem Buch Ruling the Void. The Hollowing of Western Democracy, war die „Indifferenz gegenüber Politik und Politikern nicht nur ein Problem der Wählerinnen und Wähler“ – es gab auch eine „zunehmend anti-politische Haltung in der Fachliteratur zu Regierungsplanung und -handeln und institutioneller Reform“. Es war eine Form von Top-down-Politikverdrossenheit. Politik, so sah es Tony Blair, konnte keine Probleme lösen – bestenfalls half sie den Einzelnen dabei, ihre Probleme selbst zu lösen.
In einer idealen Welt, so fasst Mair den Zeitgeist zusammen, würde Politik überflüssig werden. Einer von Blairs Ministern, Charles Falconer, drückte es so aus, dass „die Depolitisierung von wichtigen Entscheidungen ein wichtiges Element ist, um die Macht den Menschen anzunähern“. Die Gesellschaft wurde betrachtet wie ein komplexes System, das „sich gut genug organisiert durch sich selbst organisierende Netzwerke und jede Maßnahme der Regierung nur ineffektiv ist oder sogar kontraproduktiv“, wie es in Mairs Buch heißt. Ulrich Beck nannte es „Politik mit einem kleinen p“. Weder die Bürger noch die politisch Handelnden, so fasst es Mair zusammen, sahen die Notwendigkeit von „politischer oder parteilicher Entscheidungsfindung“, Expertenmeinung galt mehr als schnöde Interessen.
Angesichts des Widerspruchs zwischen einem sehr lebhaften theoretischen Diskurs zu Fragen der Demokratie und der abnehmenden öffentlichen Aufmerksamkeit sprach Mair von einem akademisch vorangetriebenen Versuch, Demokratie so neu zu definieren, dass die schwindende demokratische Beteiligung programmatisch überhöht wurde – „eine Demokratie ohne einen Demos im Zentrum“. Das hatte, mit der Zeit, Konsequenzen: Wir stehen, so fasste es Mair in seinem 2013 postum erschienenen Buch zusammen, „vor der Wahl zwischen dem Populisten und dem angeblich unpolitischen Experten“.
Was 2016 klar wurde
Ein Epochenwandel deutete sich an, der sich dann 2016 schockartig durch die Wahl von Donald Trump vollzog. Was hier passierte, war, in der Terminologie des Historikers Gary Gerstle, der Übergang von einer politischen und ökonomischen Ordnung zur nächsten – eine Ordnung dauert nach Gerstles Definition länger als ein oder zwei Wahlzyklen, eher 30 bis 40 Jahren, und zeichnet sich durch die Verbindung von politischer Theorie und Praxis eines bestimmten politischen Lagers aus, das durch Programme, Wahlen, Kandidaten, Think Tanks so stark ist, dass es auch das andere politische Lager zwingt, ihre Haltungen anzupassen.
Zwei solcher Ordnungen beschreibt Gerstle in seinem Buch The Rise and Fall of the Neoliberal Order – die Ordnung des „New Deal“ zwischen 1930 und 1980, basierend auf der Annahme, dass Kapitalismus sich selbst zerstören würde und deshalb staatlich eingehegt werden muss, um Freiheit zu garantieren; und die Ordnung des Neoliberalismus zwischen 1980 und 2016, dem die Hypothese zu Grunde liegt, dass der Staat sich so weit wie möglich und am besten ganz aus dem Mechanismus der Märkte heraushalten und den Kapitalismus entfesseln sollte, um eine freie Gesellschaft zu erschaffen.
Die neunziger Jahre liegen damit in der Mitte dieser neoliberalen Epoche; damals verfestigten sich die Praktiken, Denkweisen, Institutionen, die Logik, die Lebensweise und die Politik zu einer Ordnung im Sinne von Gerstle – weit über einzelne Wahlzyklen und auch über Parteien, Personen, Programme hinweg. Wie es Gerstle auch für die New-Deal-Ordnung beschreibt, war diese Ordnung so stark, dass die andere, in diesem Fall die linke Seite sie weitgehend übernahm und letztlich die Politiken erst wirklich zur Umsetzung brachte, die auf der anderen, nennen wir sie die rechte Seite, entwickelt worden waren.
Für das Ende der New-Deal-Ordnung macht Gerstle drei Faktoren verantwortlich: die anhaltenden Rassenspannungen in den USA, den Vietnamkrieg und vor allem die Rezession der siebziger Jahre. Und es war Gerstles Beschreibung nach Jimmy Carter, der „erste neoliberale Präsident“, der während seiner Amtszeit von 1976 bis 1980 und damit noch vor Ronald Reagan die Rolle des lenkenden und leitenden Staates in der Wirtschaft und auch in der Gesellschaft massiv in Frage stellte. Gerstle beschreibt Carter als einen Mann, der gefangen war in den „Konvulsionen seiner Zeit“: Er sah das Neue, er konnte es aber nicht gestalten, eine „klassische Figur des Übergangs“ und letztlich ein Scheitern.
Das Ende und der Anfang der neoliberalen Ära
Ronald Reagan dann trieb die neoliberale Revolution voran – und Bill Clinton war für Gerstle das, was der republikanische US-Präsident Dwight D. Eisenhower in den fünfziger Jahren war: Wie Eisenhower die Politik des New Deal weitertrieb, eigentlich ein Projekt der demokratischen Partei, so trieb Bill Clinton das republikanische Projekt des Neoliberalismus voran. Er setzte den Rahmen, etwa für die immense Macht der Konzerne, die in der New-Deal-Ordnung als Gefahr für die Demokratie benannt worden waren und zerschlagen werden mussten. Er bereitete auch das Ende dieser Ordnung vor. Im Grunde, könnte man sagen, verlor Hillary Clinton 2016 nicht gegen Donald Trump, sondern gegen ihren Ehemann.
Das Ende der neoliberalen Ordnung verbindet Gerstle, wie auch das Ende der New-Deal-Ordnung, mit einer Wirtschaftskrise: die Weltfinanzkrise von 2008 und 2009, verursacht durch exzessive Deregulierung der Finanzindustrie, toxische neue Finanzprodukte, speziell auf dem Immobilienmarkt, verbunden mit Spekulation und waghalsigem Verhalten seitens großer Banken und Versicherungskonzerne. Es waren „korrupte Praktiken“, die die Welt an den „Rand des Abgrunds“ brachten, wie Gerstle es nennt – deutlich wurde, dass das Versprechen, der Neoliberalismus werde das Leben für alle Menschen besser machen, ein falsches Versprechen war oder gar eine Lüge.
Es war aber, so Gerstle, weniger die Krise selbst und sehr viel mehr noch die Antwort darauf, die das Ende des neoliberalen Konsensus einläutete – es waren die Entscheidungen von Barack Obama, die die Brüche in der US-amerikanischen Gesellschaft verstärkten. Die Banken wurden gerettet, die Hausbesitzer wurden fallengelassen; der Aktienmarkt erholte sich rasch und belohnte die, die sich Aktien leisten konnten; Millionen und Millionen von Menschen verstanden, wie wenig sie in dieser Ordnung galten, wie wenig sie von dieser Ordnung zu erwarten hatten.
Wenn man so will, begann damals der Prozess einer Repolitisierung, die sich mit der Ablehnung der Politik speiste, die Barack Obama gestaltete. Auf der rechten Seite des politischen Spektrums entstand 2009 die Tea Party, die nicht nur die Opposition gegen Obama vorantrieb, sondern auch eine Spaltung der republikanischen Partei vorbereitete, die Rechte radikalisierte und letztlich Donald Trump ermöglichte. Auf der linken Seite waren es vor allem die anti-kapitalistischen Proteste der Occupy-Wall-Street-Bewegung, die eine ganze Generation politisierte, ohne dass es direkte politische Folgen hatte – die demokratische Partei verharrte in der Kontinuität des Neoliberalismus, bis zu Kamala Harris, die zu Recht als eine Vertreterin der alten Ordnung gesehen und als solche bei der US-Wahl im Herbst 2024 zurückgewiesen wurde.
Kamala Harris stand für eine Politik der technokratischen und kulturellen Eliten, für eine globalisierte Wirtschaft, selbst wenn sie diese wie schon Joe Biden viel stärker durch Zölle und andere Maßnahmen kontrollieren wollte. Der Wandel zu einer Form von Protektionismus und nationaler Industriepolitik war schon eine Abkehr von der alten Ordnung – besonders Bidens Programm „Build Back Better“, für das bis zu fünf Billionen US-Dollar ausgegeben werden sollten, bedeutete einen Bruch mit Clinton und Obama und brachte den Staat wieder in eine starke Position gegenüber der Wirtschaft.
Trumps falsche Antworten auf die richtigen Fragen
Aber die Antworten und vor allem die Geste von Donald Trump wirkten eindeutig stärker. Hier war jemand, der versprach, dass er etwas tun werde, dass er etwas tun könne, dass Politik wirke – wohingegen die Lektion seit den neunziger Jahren doch gewesen war, dass Politik höchstens die Verhältnisse managen könne, aber nicht gestalten. Die Wahl von Donald Trump war deshalb auf scheinbar widersprüchliche Art und Weise zugleich eine Repolitisierung wie eine weitere Form von Depolitisierung, die mit dem Politikansatz von „Make America Great Again“ verbunden ist – die Vorstellung, dass es einen Volkswillen gibt, der gegen die Eliten durchgesetzt werden muss, eine mythologische, gemeinsame Vergangenheit, in der die Erfüllung der Zukunft gesucht wird. Es gibt in diesem populistischen Gesellschaftsentwurf eigentlich keinen Platz und letztlich auch keinen Bedarf für Politik, die ohnehin nur, so der Verdacht, elitengesteuert ist.
Gleichzeitig werden die Interessen von, wie es der US-Vizepräsident JD Vance ausdrückt, Main-Street-Amerika sehr viel direkter angesprochen. Gleichzeitig gelingt es einer ziemlich offen kleptokratischen Regierung von milliardenschweren Oligarchen um Trump herum, sich als Vertreter des Volkswillens zu präsentieren. Gleichzeitig steht Vance für die enge Verbindung zu der Seite der Tech-Elite, die eher für Monopole steht und weniger für Wettbewerb und für die Demokratie kein Wert an sich ist, sondern möglicherweise eher hinderlich für ihre Expansionspläne.
Diese Widersprüche deuten schon voraus in die neue Epoche oder Ordnung, die sich formt.
In diesem Sinn: Start worrying, details to follow.
Und kauft gern das Buch, “Kipppunkte. Von den Versprechen der Neunziger zu den Krisen der Gegenwart”.