Vielleicht war das der Moment, an dem ich das Vertrauen in die Grünen verloren habe, in ihr Verständnis von Politik, in ihre taktischen und strategischen Fähigkeiten, in ihre Programmatik und vor allem in ihren Willen, sich die Ursachen für das schwindende Vertrauen der Wählerinnen und Wähler genau zu betrachten: Als Robert Habeck im Bundestagswahlkampf die brillante Idee hatte, sich an die Küchentische dieses Landes zu setzen und einfach mal zuzuhören.
Alles an dieser Idee war falsch, symptomatisch falsch. Der Zeitpunkt – viel zu knapp vor der Bundestagswahl, um wirklich programmatische Antworten auf das zu erarbeiten, was Habeck an den Küchentischen erfuhr. Die Ansage – ich höre euch zu, was Habeck offensichtlich vorher also nicht getan hatte. Die Haltung – letztlich von Larmoyanz geprägt, wo Entscheidungskraft und eine programmatische Richtung gefragt gewesen wären. Das Politikverständnis – lasst uns miteinander reden, ich mache dann schon.
Das Problem ist: Es ist nicht nur Habeck, es geht schon seit Jahren so, und es dauert immer noch an. Da gibt es einen Haufen existenzieller Fragen an die Politik, Klima, Ungerechtigkeit, alternde Gesellschaft, Krieg, technologische Revolution, um nur ein paar zu nennen – und die Antworten fallen vage aus, mutlos und matt. Es gibt keine Grundsätzlichkeit, es gibt keine offensichtliche Anstrengung, das Neue zu denken. Stattdessen gibt es von progressiver Seite immer wieder die fast schon verzweifelte Hoffnung, dass man die Politik nur besser erklären müsse.
Man könnte es die rhetorische Wende der demokratischen Politik nennen, und das ist keine gute Nachricht. Denn das Reden oder das Reden über das Reden überdeckte eine ganze Weile die inhaltliche Leere so gut wie aller Parteien, wenn es darum geht, einen Plan oder eine Vision für dieses Land oder darüber hinaus zu entwickeln, für die Zukunft, die mehr betrifft als die Menschen hier und die Menschen heute: Wer denkt soweit? Wer stellt die richtigen, die schwierigen Fragen? Wer strengt sich an?
Das Reden also hat das Handeln ersetzt, die Rhetorik hat sich an die Stelle der Politik geschoben, statt von Visionen wird lieber von Narrativen gesprochen – dieses Wort, das seit Jahren durch progressive Seminarräume und Sinnsuche wabert, das auf White Boards geschrieben wird, das wie ein Mantra herumgereicht wird, das der Schlüssel sein soll, wie man „die Menschen“ wieder gewinnt, wie man Mehrheiten erringt, wie man seine Inhalte so rüberbringt, dass sie die verstehen, die einfach, so ist leider eine unterschwellige Annahme, irgendwie nicht in der Lage sind, intellektuell, emotional, aufmerksamkeitsökonomisch, zu verstehen, was die Progressiven meinen.
Warum es nicht reicht, für die Demokratie zu sein
Aber es ist ein Fehler zu glauben, die eigene Politik würde nicht verstanden, wenn auch ein beliebter Fehler. Es ist faules Denken und Arbeiten, weil es das Versagen bei den anderen sieht. Es ist eine Art von Wirklichkeitsverdrängung, weil man ausblendet, dass es Versäumnisse in der Analyse der Probleme, der tieferliegenden Gründe und der angebotenen Lösungen geben könnte. Die maximale Schrumpfform des Narrativs ist dabei die Rede davon, dass „wir“ für die „Demokratie“ stehen, „die“ aber nicht.
Wie so oft ist an diesem Satz einiges richtig und viel falsch – vor allem aber wird damit ein Denken in Lagern konstruiert, die es in Wirklichkeit so nicht gibt, versehen mit Begriffen, die zu abstrakt sind und allgemein und ablenkend, als dass sie nützlich sein könnten für die politische Debatte: Das Wort Demokratie etwa, das weitgehend inhaltsleer ist, was man schon daran sieht, dass es die progressive Seite genauso verwendet wie die AfD. Wer sagt: Wir sind die Demokratie, die anderen nicht, verheddert sich in einem Streit und verliert Zeit und Klarheit, wenn es um Inhalte geht.
Demokratie, das sei an dieser Stelle einmal gesagt, ist insofern als Konzept überschätzt, als dass es kein Thema von politischer Auseinandersetzung ist, jedenfalls keines, bei dem man entscheidende Vorteile erringen kann. Politische Mehrheiten, das haben etwa die Wahlkämpfe zuletzt von Kamala Harris und Olaf Scholz auf negative Weise gezeigt, erzielt man nicht, wenn man den Schutz der Demokratie zum zentralen Wahlversprechen macht – die Menschen wollen von der Politik programmatische Antworten, sie wollen sehen, dass sich etwas ändert und tut, wenn sie einer Partei oder Person ihre Stimme geben.
Wie sich Rhetorik an die Stelle von Inhalten setzte
Es ist dabei nicht falsch, dass es in der Politik um die Macht des Wortes geht, die allerdings eher selten genutzt wird in diesem Land. Es ist nicht falsch, dass es Geschichten braucht, von mir aus auch Narrative, um die einzelnen politischen Maßnahmen in einen größeren Rahmen zu fassen und einen Blick zu eröffnen auf eine mögliche Zukunft. Es ist nicht falsch, dass Emotionen wichtig sind und sich die Menschen gesehen, gemeint, gehört fühlen wollen.
Problematisch aber ist es, wenn sich Rhetorik an die Stelle von Inhalten setzt – und das ist in den vergangenen Jahren passiert, in denen einerseits nicht nur in Deutschland die Stimmen für die rechten oder rechtsextremen Parteien zunahmen und andererseits die progressiven Kräfte an der eigenen Mutlosigkeit oder auch grundsätzlichen Ideenlosigkeit zu verstummen drohten. Was es also statt neuen Narrativen braucht, sind neue Visionen, neue Projekte, Moonshots, ein wirkliches Bild einer neuen Welt, das sich auf der Höhe der Herausforderungen bewegt.
Visionen und Projekte erfordern anderes und oft härteres Arbeiten. Sie brauchen andere Allianzen, oft ein anderes Politikverständnis, das über die Arithmetik von Mehrheiten hinweg Supermehrheiten sucht für grundlegende Transformationsprogramme – wie etwa nicht nur die Heizungen, sondern gleich die ganze Energieversorgung verändert werden kann. „Electrify everything“, wie es der Saul Griffith in Studien und Büchern beschreibt, der große Plan, wie wir von A nach B kommen können, ohne dabei die Hälfte der Menschen oder mehr zu verlieren.
Es ist diese Anstrengung, die Politik, Staat und Gesellschaft gemeinsam unternehmen müssen – in einem neuen Verhältnis. Die programmatischen Ideen müssen und werden nicht aus der Politik kommen, sie kommen eventuell sogar wahrscheinlicher aus der Gesellschaft, der Wirtschaft, der Wissenschaft – die neue Rolle der Politik wäre es, diese Ideen zu verbinden, ihnen Wirkmacht zu geben, sie Wirklichkeit werden zu lassen. Diesen Prozess zu steuern und zu gestalten, ist Aufgabe des Staates, der mehr ist als Verwaltung des Bestehenden.
„Electrify everything“ heißt damit auch, dass die Energie der Gesellschaft als Gesamtes eine neue Form von Politik antreiben muss. Dafür braucht es auch Worte, Erzählungen, Beispiele, Narrative. Aber diese Narrative können sich nicht darin erschöpfen, anderen zu erklären, dass sie einfach nicht verstanden haben, dass man selbst schon das Richtige will. Sie können sich auch nicht in inhaltsleeren Begriffen verlieren wie „Zusammen“, das Wort, das die Grünen ja ernsthaft auf ihre Wahlplakate druckten. Sie haben auch deshalb so an Stimmen verloren, weil sie vage und ambitionslos geworden sind.
Was den Progressiven das Narrativ, ist den Rechten die Lüge
Es ist doch eigentlich klar, dass die Wählerinnen und Wähler, ob der Grünen oder der anderen Parteien, vor allem eines wollten: Antworten auf ihre Fragen – etwa zu den gestiegenen Lebenshaltungskosten, dem Krieg in der Ukraine, der wachsenden Ungleichheit, der sozialen Dimension des Klimawandels. Die Menschen, das ist eigentlich keine Überraschung, wollen vor allem bessere Politik, die auch die Realitäten klar benennt. „Zusammen“ ist keine Antwort, vor allem nicht dann, wenn sie von einer Partei kommt, der von der anderen Seite vorgeworfen wird, wenn auch polemisch zugespitzt, dass sie spalten würde.
Tatsache ist dabei: Was den Progressiven das Narrativ ist, das ist für die Rechten die Lüge und für die Konservativen das nachträgliche Achselzucken. Verbindend ist dabei eine Art von Verantwortungslosigkeit, weil reale Politik, für die jemand einstehen müsste, fehlt. Von so ziemlich allen Seiten – der Unterschied ist, dass vor allem die Rechten, darauf hat neulich der Historiker Adam Tooze hingewiesen, wenigstens ein Zukunftsversprechen haben, man könnte es sogar eine Vision nennen: der ethnisch-homogene, national definierte Staat, in dem magischer Weise alles wieder so ist wie früher.
Diese Vision ist myopisch, sie ist oft rassistisch gemeint, sie ist maximal ausgrenzend. Die Vision der anderen Rechten, wie sie sich in den USA am deutlichsten zeigt, also die Vision der Techno-Libertären, ist eine, in der es eine Minderheit von Menschen gibt, die die weite Mehrheit beherrschen, wobei Technologie teils als Mittel der Befriedigung von Bedürfnissen gesehen wird und teils als Mittel zur Unterdrückung und Kontrolle. Diese Vision schwankt zwischen utopisch und dystopisch – aber es ist mehr als ein Narrativ, das die Arbeit an der Wirklichkeit durch die Arbeit am Wort ersetzt.
Narrativ-Politik ist damit Post-Politik, weil sie die im Wesentlichen vom Handeln auf das Reden verschiebt oder gleich das Handeln durch das Reden ersetzt. In meinem Buch „Kipppunkte“ habe ich den Beginn dieser Post-Politik in der Agenda der Sozialdemokratie in den neunziger Jahren gefunden, und jemand wie Anthony Giddens, der als Vordenker des „dritten Weges“ gilt, hat damals schon die Ambivalenz dieses Ansatzes ausgelotet. Es war, so wird es im Rückblick klar, in vielem die Abschaffung der Politik.
Von heute aus betrachtet, mehr als Vierteljahrhundert später, klingen viele der Sätze, mit denen Giddens die Lage beschreibt, sehr vertraut: „Entschlossen optimistisch scheinen nur diejenigen zu sein, die an eine technologische Lösung unserer Probleme glauben. Aber die technologische Entwicklung zeitigt zweischneidige Folgen, und ohnehin kann die Technik nicht die Basis eines effektiven politischen Programms bilden. Das politische Denken wird seine Imaginationskraft nur wiedererlangen, wenn es weder bloß reagiert noch sich auf das Alltägliche und allzu Naheliegende beschränkt. Ohne Ideale ist keine Politik zu machen, aber Ideale sind leer, wenn sie sich nicht auf realisierbare Möglichkeiten beziehen.“
Der Philosoph der Sozialdemokratie, Jürgen Habermas, sah schon 1998 Zeichen kommender demokratischer Regression, gerade durch den von Giddens propagierten „dritten Weg“: Habermas befürchtete „die Verdrängung der Politik durch den Markt“ und warnte vor der nachlassenden „Integrationskraft der bestehenden nationalen Lebensformen, die bisher die staatsbürgerliche Solidarität getragen haben“. Das führe, so Habermas, „auf Seiten der Wähler zu Apathie, oder Protest, auf Seiten der Politiker zur Abrüstung ihrer Programme. Der Verzicht auf politische Gestaltung der sozialen Verhältnisse und die Bereitschaft, normative Gesichtspunkte zugunsten der Anpassung an vermeintlich unausweichliche systemische Imperative des Weltmarktes einzuziehen, beherrschen die öffentlichen Arenen der westlichen Welt. Clinton oder Blair empfehlen sich als tüchtige Manager, die ein angeschlagenes Unternehmen schon irgendwie reorganisieren werden, und verlassen sich auf Leerformeln wie ‚It‘s Time for a Change‘.“
Die Progressiven hatten ja mal Projekte
Rot-Grün hatte dabei noch Projekte, muss man fairerweise sagen, die auf die gesamte Gesellschaft abzielten, das Staatsangehörigkeitsrecht etwa, das 2000 in Kraft trat und das ius soli als Kriterium für die Staatsangehörigkeit etablierte – eine gestaltende Maßnahme, die einerseits eine Veränderung in der Gesellschaft aufnahm und andererseits eigene normative Maßstäbe setzte. Auf ganz andere Weise war auch die Agenda 2010 ein solches Projekt, ganz egal, was man von den politischen Folgen hält. Es fehlen gegenwärtig solche Projekte, die sich zu einer politischen Erzählung formen oder denen eine politische Erzählung zugrunde liegt – ohne diese Erzählung kommen diese Projekte nicht zustande, aber allein die Erzählung ist eben auch kein hinreichender politischer Ansatz.
Ein Narrativ ohne Analyse und auch ohne Klarheit, Ehrlichkeit, auch den Mut, Menschen zu verlieren, ist oft eher Propaganda, selbst wenn sie von der eigenen Seite kommt. Alle progressive Politik muss damit beginnen, dass sie die Machtfrage stellt und Ungleichheit und Ungerechtigkeit benennt. Hier muss ein Narrativ ansetzen, darauf muss eine Erzählung bauen – und sie muss sich auf ein klares oder avisiertes Morgen beziehen, auf eine Vorstellung davon, wie die Gesellschaft, die Welt werden soll.
Und wenn es gerade kein heiteres Bild ist, dann ist das eben so – die Rechten zeichnen dunkle Szenarien und gewinnen Mehrheiten, „American carnage“, wie Donald Trump 2017 sagte; die Progressiven tun sich schwer mit Angst und Negativität, und das ist auch gut so. Sie müssen dennoch eine Erzählung haben, die die Balance findet zwischen Weniger und Mehr – weniger wovon, mehr wovon?
Es ist ein Zeitalter der Umverteilung, nicht nur, aber vor allem ökonomisch. Wenn weiter nur von unten nach oben umverteilt wird, wird diese Gesellschaft kippen.
Wie faul und verloren gerade Akteure von CDU und CSU auftreten, habe ich hier beschrieben; ich warte noch auf die Antworten der progressiven Seite.
Bis dahin gilt: Start worrying, details to follow.
Wäre nicht ein Staat, in dem man zusammenkommt und kontroverse Themen auf Augenhöhe bespricht, eine gute Vision? Muss ja nicht am Küchentisch sein. Aber das Bemühen, mehr Zuhören und mehr Versöhnlichkeit in unsere politische Kultur zu bringen, finde ich auf jeden Fall unterstützenswert.