Wir leben in Zeiten politisierter kognitiver Dissonanz. Sehr viele Menschen können sich darauf einigen, dass es so nicht weitergehen kann. Sie können sich darauf verständigen, dass es Alternativen geben muss zu der Politik der vergangenen Jahre und Jahrzehnte. Von der Rechten werden die Alternativen klar formuliert, sie sind autoritär, menschenfeindlich, nationalistisch, monopolkapitalistisch und eine Reaktion auf und Konsequenz von einer Politik der Alternativlosigkeit, die Konservative wie Progressive als Folge der neunziger Jahre zum demokratischen Normalfall erklärt haben.
Und was passiert, wenn eine Alternative auftaucht? Wenn ein Bruch mit dem Bestehenden formuliert wird, der vor allem die begeistert, die von den Generationen vor ihnen zurückgelassen wurden, mit dem Verdikt belegt, sie seien passiv, apathisch, technologieabhängig, irgendwie kindisch, selbst oder gerade in ihrem Versuch zu protestieren? Was passiert also, wenn sich diese Generation politisiert und natürlich und zum Glück nicht die gleichen politischen Konzepte wiederholt wie die Generationen, die sie in dieses Schlamassel gebracht haben: Progressive Panik bricht aus.
Es ist Sozialismus, rufen sie, als sei Gerechtigkeit ein Konzept, das man unbedingt ablehnen muss. Mit solchen Progressiven: Seien die die US-Demokraten, die immer noch nicht verstanden haben, warum sie gegen Donald Trump verloren haben; sei es Labour in Großbritannien, die ohne Not eine Migrationspolitik wählen, die man rassistisch nennen kann; sei es eine SPD, die mit gerade in einem riesigen Haushaltsloch verschwunden ist, das eine Aufrüstung erzeugt, die von ihrer Seite nicht wirklich begründet wurde, und vor allem Defizite erzeugt, die weiteren Rechtsdrall verursachen werden – mit solchen Progressiven kann man nicht das Neue bauen, das so dringend notwendig ist und vor allem absolut möglich.
Das Problem ist, dass das Neue in die Form des Alten gepresst wird. Die alte Form ist die der Lagerkämpfe, die der Logik von Die und Wir, die der Ideologien und Begriffe, die ihren Sinn verloren haben und weiter durch die Analysen und Leitartikel geistern. Sozialismus ist so ein Begriff, der weitgehend bedeutungslos geworden ist. Wenn es heute darum geht, etwas mehr Gleichheit herzustellen in einer Welt der halsbrecherischen Ungleichheit, dann ist das eine demokratische Pflichtaufgabe – keine radikale Umverteilungspolitik, sondern stabilisierende Gerechtigkeitspolitik.
Der Soziologe Emanuel Deutschmann hat das gerade in seinem Buch „Die Exponentialgesellschaft“ gut beschrieben: Der Bruch mit dem Bestehenden ist heute Stabilisierungspolitik, weil die Dynamik des Gegenwärtigen die Widersprüche unserer Gesellschaften und unserer Welt exponentiell verstärkt und zuspitzt. Das Neue wäre demnach erst einmal der Versuch, mit der Logik der Beschleunigung zu brechen oder mit dem Hinnehmen von Ungerechtigkeit als angeblich unausweichliches Design-Element unserer Zeit. Es ist also keine Zeit für Revolutionen, auch keine Zeit für Ideologien, es ist eine Zeit für konkrete Lösungen und Ideen, wie das Leben für alle besser sein könnte, und dann die Umsetzung dieser Ideen.
Was haben die Demokraten nicht verstanden?
Womit wir bei Zohran Mamdani wären, der bei den Vorwahlen der demokratischen Partei zum Kandidaten für die Bürgermeisterwahl in New York gewählt worden ist, gegen Andrew Cuomo, der wegen Vorwürfen der sexuellen Belästigung 2021 als Gouverneur von New York zurücktreten musste. Cuomo ist 67 Jahre alt, er war in den späten neunziger Jahren Bauminister unter Bill Clinton, dem „neoliberalsten Präsidenten“ der USA, wie der Historiker Gary Gerstle ihn in seinem großartigen Buch „The Rise and Fall of the Neoliberal Order“ nennt – er ist ein Teil des Establishments jener demokratischen Partei, die Bernie Sanders verhindert hat und Joe Biden so lange vor kritischen Fragen oder auch der Realität geschützt hat, dass es fast schon kriminell wurde, und die auf dieser Art und Weise mehrfach zumindest mitgeholfen hat, durch programmatische Arbeitsverweigerung, Engstirnigkeit, narzisstisches Machtkalkül, dass Donald Trump gewählt wurde.
Haben sie gar nichts gelernt? Was haben wir gelernt?
Zohran Mamdani ist 33 Jahre alt, er ist das Gesicht einer neuen Generation, er spricht für diese neue Generation, die genau die sind, die unter der Politik der Generation Cuomo leiden musste, die nicht aus ihren Fehlern lernen will, die nicht abtreten will, die im Gegenteil die Fehler wieder und wieder machen will mit dem seltsamen Trotz langsam ergreisender Kinder. Für Cuomo, der von einer Koalition der Ultrareichen, der Tech-Branche und der Immobilien-Lobby unterstützt wurde, bedeutete das in seiner Zeit als Gouverneur, dass er mit der in den neunziger Jahren gelernten Austerität vorging und etwa die New Yorker Schulen, U-Bahnen und auch Gesundheitsversorgung kaputtsparte. Es ist genau die katastrophale Infrastruktur- und Umverteilungspolitik, die das Drama der Demokraten in den USA und auch von weiten Teilen der Sozialdemokratie in Europa markiert und den Aufstieg der Rechten ermöglicht hat.
Warum braucht es politische Trigger-Warnungen?
Mamdani dagegen benennt die Schmerzpunkte nicht nur von New York – die menschenverachtenden Mietpreise, die Klimakrise, die durch die Wohnungskrise noch verschärft wird, und umgekehrt, die Lebenshaltungskosten, die Kosten für Kinderbetreuung. Er will den sozialen Wohnungsbau ankurbeln, er will Kinderbetreuung kostenlos machen, er will die Busse kostenlos machen, er will eine Stadt für alle Menschen, die dort leben – und der „New York Times“ fällt nichts Besseres ein, als in einem Leitartikel davor zu warnen, ihn zu wählen. Er sei nicht nur unerfahren, schrieben sie über den Abgeordneten im New Yorker Repräsentantenhaus (wobei sie immerhin nicht den sonst routinehaft vorgebrachten Antisemitismus-Vorwurf wiederholen), er habe auch wirre, demokratisch sozialistische Ideen (wozu braucht man eigentlich noch Reaktionäre, wenn auch die „New York Times“ politische Trigger-Warnungen einbaut?), etwa wolle er, dass die Stadt Lebensmittelläden betreibt.
Eigentlich eine gute Idee, finde ich. Es sollte viel mehr staatliche Eingriffe geben in sozialen und ökonomischen Fragen. Man kann ja nicht immer nur sagen, dass es anders sein sollte, man kann nicht immer wieder die Verbindung zwischen sozialer und ökonomischer Ungleichheit und dem massiven Rechtsruck in der Gesellschaft analysieren, man kann nicht die Probleme der regressiv-progressiven Politik der vergangenen Jahre und Jahrzehnte beschreiben – und dann sagen, dass die Antwort genau die Sorte Politik ist, die durch stures Marktdenken diese Probleme erst geschaffen hat. Es ist willentlich schizophren, es ist symptomatisch für eine Denkstarre, eine Demokratielähmung, die es den Rechten, die so gut vorbereitet sind, leichter macht als nötig.
„Bizarr“ nannte deshalb auch ein Autor des „New Yorker“ den Text, wobei er selbst es nicht schaffte, die politische Vision von Mamdani oder die Bedeutung seiner Kandidatur zu benennen, dieses, in den Worten des Autors, „kid with the nice eyebrows“. Es ist die Mischung aus Harmlosigkeit und Hysterisierung, die der Grundmodus der Reaktionen derer ist, die immer noch so tun, als habe es 2016 nicht gegeben und auch 2024 nicht. Sie sagen zwar, dass es Faschismus ist, was in den USA herrscht, aber sie handeln nicht danach. Sie haben immer noch ihr sehr begrenztes Set an Ideen, das sie seit den neunziger Jahren mit sich herumtragen, und wollen verhindern, dass das Neue, dass irgendetwas Neues entsteht.
Es hat etwas Unheimliches, so wie oft das Irrationale etwas Unheimliches hat – gespenstisch in dem Sinn von Jacques Derrida, der schon 1993 in „Marx‘ Gespenster“ das zombiehafte Nachleben des Kapitalismus beschrieb, der wie ein Untoter sein Regime ausübt. Sehr viel weiter sind wir nicht gekommen. Sehr viel weiter als 2016, als die gleichen Debatten geführt wurden, als es darum ging, ob Hillary Clinton oder Bernie Sanders die richtigen Antworten auf die richtigen Fragen hätten – das Status-Quo-Establishment entschied, dass es nicht der populäre Sanders war, und ermöglichte dadurch die erste Präsidentschaft von Donald Trump, der seine Antworten auf seine Fragen hatten, und einige dieser Fragen, die globale neoliberale Ordnung, soziale Ungleichheit und Deindustrialisierung etwa, waren Fragen, auf die auch die Demokraten hätten eine Antwort haben können; hatten sie aber nicht, deshalb wurden sie auch nicht gewählt.
Die Gespenster sind unter uns
Derrida beschreibt das Entstehen dieser Ordnung, dieser Systematik, dieser Ära, wie es Gary Gerstle nennt – das Problem ist, dass die Rechten längst aus der Logik dieser Ordnung herausgetreten sind und schon damit beschäftigt sind, die Zeit nach dem Interregnum zu gestalten, während die Linke oder die Nicht-Rechte, wie auch immer man es nennen will, immer noch in den Fängen und Verhedderungen der alten Ordnung hängt, nicht loskommt von den Widersprüchen, die sie gar nicht mal selbst geschaffen hat. Es ist ein tragisches Schauspiel, das den rasenden Stillstand der einen Seite mit dem rasenden Tempo der anderen Seite kontrastiert.
In einer der vielen Analysen zum Mamdani-Schock habe ich gelesen, dass die Demokraten nun ihren Tea-Party-Moment haben – was auf verschiedenen Ebenen interessant ist. Einerseits, weil die Republikaner diesen Moment eben 2008 hatten und es sich momentan so anfühlt, als seien sie tatsächlich 15 bis 20 Jahre voraus, was Taktik, Personal und Strategie angeht. Weiter, weil es ja den Tea-Party-Moment von links gab, es war Occupy Wall Street und hatte nicht die Wirkung, die diese Bewegung von unten hätte haben sollen oder können, weil sie nicht stark genug war und weil sie nicht gewollt war. Und schließlich, weil es doch auch wahr ist: Hier ist ein Bruch, hier ist eine notwendige grundsätzliche Erneuerung, die den Erfordernissen der neuen Ära entspricht.
Dieser Begriff, Ära, so wie ihn Gary Gerstle verwendet für die 50 Jahre des Neoliberalismus von 1973 bis 2016, ist auch deshalb so wichtig für das Nachdenken über das Neue in der Politik, weil er sich verbindet mit den Ideen, die in dieser Zeit zur Verfügung standen – im Neoliberalismus waren das etwa Austerität, Steuersenkungen für die Reichen, Privatisierung und generelle Staatsskepsis oder -feindschaft. Diese Ideen waren der Stoff, aus dem Mitterechts und Mittelinks ihre Programme formten, zum Ende hin kaum zu unterscheiden. Damit ist Schluss. Das Problem ist, dass die einen schon die Ideen für die neue Zeit haben, die anderen noch nicht.
Mamdani, und auch deshalb bekommt er so viel Aufmerksamkeit, personifiziert diesen Bruch, aber wichtiger als Mamdani ist der Bruch selbst, der in allen westlichen Demokratien kommen muss, auch in Deutschland. Es braucht eine andere Generation mit anderen Ideen und einer anderen Energie, um eine Politik zu gestalten, die sich an den Realitäten von morgen orientiert und nicht an den Ideologien von gestern, und dazu gehört eben auch der Neoliberalismus. Das Durchschnittsalter der Führungsspitze der Partei der Demokraten ist 72 Jahre, das der Republikaner ist 48 Jahre. Die Demokraten weigern sich immer noch, das eigene Versagen und die eigene Mitschuld am Triumph von Donald Trump zu sehen. Realitätsverweigerung aber beherrscht auch das Bild der Sozialdemokraten in Deutschland.
Die haben zwar auch einen 33-Jährigen in Vorbereitung einer Schlüsselposition, Tim Klüssendorf, der Generalsekretär werden soll – aber es ist nicht klar, wann und wie sich die Partei aufraffen will, die notwendigen neuen sozialdemokratischen Antworten auf KI, die massive Veränderung der Arbeitswelt, die alternde Gesellschaft, die Klimakrise, Ungleichheit etc. zu geben. Neue Steuern oder nur mehr Schulden? Europäische Industriepolitik oder einfach nichts zu KI sagen? Vor allem auch: Neue Formen der Parteiarbeit, massive Öffnung für Diskurse und Zivilgesellschaft oder doch weiter innere Disziplin fordern? An diesem Freitag beginnt der Parteitag in Berlin, es steht nicht zu befürchten, dass ein Gesellschaftsentwurf über den Mindestlohn von 14,92 Euro plus minus X hinaus formuliert wird.
Auch hier regiert wieder die Schizophrenie. Es muss doch eigentlich allen klar sein, denkt man sich von außen, dass der stete Sinkflug auch bis 2029 weitergehen wird und darüber hinaus, wenn es nicht eine massive, grundsätzliche und zukunftszugewandte Neuorientierung der Partei gibt. Lars Klingbeil gibt keine Anzeichen, dass er das will. Um ihn herum scheint es wenige zu geben, die das wollen. Es ist ein Drama mit Ansage, die Verweigerung der notwendigen Arbeit, was auch damit zu tun hat, dass eine Partei wie die SPD (und die CDU genauso) wohl schon allein von ihrer streng hierarchischen Gestalt her nicht schnelle Veränderungen möglich macht.
Warum bedeutet Disruption Stabilität?
In diesem Land und in dieser Zeit heißt das Stabilität und wird für gut befunden. Das Gegenteil ist richtig, wie Emanuel Deutschmann gut beschreibt. Stabilität ist in der Exponentialgesellschaft nur durch massive Veränderungen möglich, kontra-intuitiv schafft nur Disruption Stabilität. Auch dafür steht Zohran Mamdani, auch das ist seine Botschaft über New York hinaus. Veränderung kommt oft von außen, sie kommt unerwartet, sie kommt im Widerspruch zum Alten. Diese Auseinandersetzung muss auf der Linken stattfinden. Auf der Rechten findet sie statt – da verabschiedet man sich vom Völkerrecht, von Grundrechten, in manchem vom Rechtsstaat und damit von wesentlichen Elementen der Demokratie des 20. Jahrhunderts.
Für die SPD und darüber hinaus gilt: Eine neue, andere Form von Politik wird in der alten Form nicht wirklich machbar sein. Es braucht andere Prozesse, andere Offenheit, andere Allianzen, andere Parteien, um das Neue zu ermöglichen.
Bis dahin gilt: Start worrying, details to follow.
Danke, stimmt so. Alles. Wir müssen ganz neu denken, auch und derzeit vielleicht am dringendsten in der Asylpolitik. Nicht nur die radikalen Abschottungsversuche sind von gestern, auch die vermeintlich einhelligen Meinungen. „Aber wir können doch nicht alle …“ ist bereits jetzt weltfremd (die allermeisten Flüchtenden bleiben in der Region) und wird angesichts der sich zuspitzenden Krise der Lebensgrundlagen in weiten Teilen des Globalen Südens immer menschenfeindlicher.